Ein Artikel von Dario Azzellini zum Hintergrund des Statuen-Sturzes von Caracas
Konflikt zwischen Apparat und Basis in Venezuela
Sturz einer Kolumbus-Statue ruft Bürokraten auf den Plan
Christoph Kolumbus war wahrlich kein Heiliger und die „Entdeckung“ Amerikas alles andere als ein für beide Seiten erfreuliches Ereignis. So viel hat sich mittlerweile in großen Teilen Lateinamerikas und auch Europas herum gesprochen, auch wenn offizielle Stellen in Spanien oder Italien versuchen die Geschichte in ihrem Sinne als „Begegnung der Kulturen“ umzudeuten.
Ausgerechnet in Venezuela führt nun der Sturz einer Kolumbus-Statue durch Hunderte von Aktivisten verschiedener Basisbewegungen zu einer Zusammenstoß zwischen großen Teilen der Basis des Transformationsprozesses und Vertretern des Staats- und Verwaltungsapparates. Seit dem Sturz der Statue am 12. Oktober in Caracas häufen sich die Stellungnahmen zu dem Ereignis und die drei wegen des Aktion inhaftierten Basisaktivisten erfahren große Solidarität. So schreibt eine Lila Carrizales auf der meistbesuchtesten Basiswebseite www.aporrea.org „letztlich ist die Bevölkerung aufgewacht und es entsteht ein Wert, den unsere Verfassung predigt: Die gesellschaftliche Überprüfung, welche logischerweise auch die Geschichte nicht ausschließt.“
Auf Regierungsseite sind jedoch ganz andere Töne zu hören. Jesse Chacón, Minister für Justiz und Inneres, bezeichnete das Vorgehen gegen die Statue als „abzulehnenden anarchischen Akt“, das wichtigste sei, „das gehandelt wurde, es gibt Verhaftete und sie werden ein Verfahren bekommen, so wie der Rechtsstaat in jedem Land funktioniert.“
Nicht das irgend jemand Kolumbus mögen würde. Nun war es ja auch Präsident Hugo Chávez, selbst ehemaliger Geschichtsdozent an der Militärakademie, der in den vergangenen Jahren immer wieder die Bevölkerung Venezuelas darauf hinwies, es sei falsch den 1492 begonnen Genozid und die Unterwerfung des Kontinents als „Entdeckung Amerikas“ zu feiern. Dabei griff er auch stets Christoph Kolumbus an. Und der 12. Oktober, der auf dem gesamten Kontinent offiziell als Tag der „Entdeckung Amerikas“ gefeiert wird, wurde in Venezuela unter Chávez zum „Tag des Indigenen Widerstands“ ernannt. Formal aber stellt der Sturz der Statue einen Rechtsbruch dar.
Hier wird eine Diskrepanz betreffs der Vorstellung von gesellschaftlichen Transformationsprozessen deutlich. Roberto López Sánchez, Professor für Geschichte an der Universität von Zulia, verteidigt den Statuensturz als „eine Reaktion gegen den Genozid, der auf amerikanischen Boden verübt wurde. Kolumbus symbolisiert jene, die den geköpften Körper Túpac Amarus in Stücke hackten“. Für López Sánchez wurde „das Symbol der westlichen Herrschaft über Lateinamerika“ gestürzt, denn in der „Geschichte als Ausdruck von Bevölkerungen, die Prozesse der gesellschaftlichen Transformation beginnen, stürzen und zerstören diese die Symbole der schändlichen Regime, gegen die sie sich erhoben haben.“ Und er erinnert daran: „Die Kommunarden von Paris stürzten während der ersten Arbeiterrevolution der Welt die Statue von Napoleon, so wie es Karl Marx 20 Jahre vorher vorausgesagt hatte ...“
Das Auftreten der Behörden offenbart aber auch eine tiefe Krise der Rechtssprechung und der Polizei in Venezuela. Der Aufruf zum Prozess gegen die Statue von Kolumbus, war öffentlich und fand weite Verbreitung. Zu der Aktion aufgerufen hatten unter anderem die Antikorruptionsorganisation AIPO, die Bolivarianische Anwaltsvereinigung ABA, die Bewegung 13. April, das Freie Radio Alí Primera, das Videokollektiv Calleymedia und viele andere. Der Prozess fand öffentlich unter freiem Himmel statt und das Urteil wurde anschließend ebenso öffentlich vollzogen.
Während dieser gesamten Zeit schritt die Polizei kein einziges Mal ein, um die Aktion zu unterbinden und auch auf dem langen Weg von der Plaza Venezuela zum Theater Teresa Carreño, auf dem die Demonstranten die Statue hinter sich her schleiften, ließ sich kein Polizist blicken. Vor dem Theater, in dessen Inneren die offiziellen Feierlichkeiten des „Tag des indigenen Widerstandes“ stattfanden, wurde die Statue von Kolumbus kopfüber an einem Baum aufgehängt, während die Demonstranten dazu tanzten und sangen um den Triumph über das koloniale Symbol zu feiern. Anschließend wurde die Statue wieder herab gelassen, um sie für alle Besucher des offiziellen Festaktes sichtbar zu machen.
Vor Ort befanden sich sowohl Angehörige der Nationalgarde wie auch des Militärs, die jedoch nicht einschritten. Plötzlich tauchten mehrere Beamte der Polizei des bolivarianisch regierte Stadtbezirks Libertador auf und griffen ohne Vorankündigung die Demonstranten an, warfen eine Tränengasgranate, verprügelten einen Aktivisten eines Basismediums und raubten ihm seine Kamera.
Als „Kulturgut“ fällt die Statue in den Verantwortungsbereich der Kommunen. Der bolivarianische Bürgermeister des Hauptstadtbezirks Libertador Freddy Bernal erklärte die Statue werde restauriert und an der gleichen Stelle wieder aufgestellt.
In absoluter Verkehrung der gesamten Geschichte des Kontinents beeilte Bernal sogar sich bei den Regierungen Spaniens und Italiens für die Zerstörung der Statue formal zu entschuldigen. Jedwede Person, die gegen eine Skulptur vorgehe, werde „das gesamte Gewicht des Gesetzes zu verspüren bekommen (...) das Gesetz steht nicht zur Verhandlung noch zur Diskussion, es wird einfach angewandt“, so Bernal. „Christoph Kolumbus ist Teil unserer Geschichte und kann daher nicht auf einen Schlag beseitigt werden“.
Zu behaupten in Venezuela herrsche Recht/Gerechtigkeit (das spanische Wort justicia hat beide Bedeutungen), wie es Innenminister Jesse Chacón und Bürgermeister Bernal getan haben, ist nicht nachvollziehbar. Es zeugt entweder von absoluter Realitätsferne oder Demagogie. Während der Oberste Gerichtshof Venezuelas feststellte es habe im April 2002 keinen Putsch gegeben (sondern nur „ein temporäres Machvakuum, in das einige Generäle geschwängert von guten Absichten intervenierten“) und folglich alle Klagen fallen ließ, verbrachten vier Chávez-Anhänger anderthalb Jahre im Gefängnis, weil sie auf das von Scharfschützen auf die Chavisten eröffnete Feuer mit Schüssen antworteten. Für den Sturm auf die kubanische Botschaft während des Putsches wurde niemand verurteilt, es wurden nicht einmal jene angeklagt, die vor laufender Kamera die Stromkabel und Wasserleitungen durchtrennten und verkündeten die Kubaner auszuhungern, die „ihre Teppiche essen werden“, obwohl sie namentlich bekannt sind.
Ebenso haben sich die Verantwortlichen für das illegale groß angelegte Aussperrungsmanöver vom Dezember 2002 / Januar 2003 nicht vor Gericht verantworten müssen, genauso wenig wie jene Mitarbeiter des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA, die mit Sabotageakten und der Zerstörung von Anlagen Aktivitäten der wichtigsten Einnahmequelle des Staates lahm legten.
Ungestraft blieben auch die Ausschreitungen mit brennenden Barrikaden und Schusswaffeneinsatz straffrei, die die Opposition Ende Februar Anfang März diesen Jahres organisierte und die mindestens neun Menschen das Leben kosteten. Auch die Morde an über 100 Bauernaktivisten blieben bisher ungestraft, obwohl auch hier in einigen Fällen die Täter, Großgrundbesitzer oder von ihnen beauftragte Killer, namentlich bekannt sind.
Auf einer Pressekonferenz zwei Tage nach den Ereignissen erklärten sich zahlreiche Organisatoren des „Tag des indigenen Widerstandes“ auf der Plaza Venezuela für den Sturz der Kolumbus-Statue verantwortlich und riefen Basisorganisationen und Einzelpersonen dazu auf sich der Selbstbezichtigung anzuschließen (pachamerica@calleymedia.org). In der Erklärung „Wir sind verantwortlich“ übernahmen 84 Erstunterzeichner, Aktivisten aus allen Kämpfen der venezolanischen Basis, die „intellektuelle, organisatorische und direkte Verantwortung“ für die Ereignisse des 12. Oktober. „Die Vorwürfe des Vandalismus“, so der Text weiter, „weisen wir entschieden zurück und betonen mit ureigner Unschuld, dass wir uns absolut stolz führel, für das, was wir getan haben, denn letztlich wird, auf die einzige Weise in der es diese Ikonen verdienen, eines der härtesten und repräsentativsten Symbole dessen zerstört, was die völkermörderische, ausbeuterische, entmenschlichende, kulturzerstörerische und wirklich vandalische Vorgehensweise aller Imperialismen ist, die diesen Planeten mit Elend überzogen haben; und vor allem den Vorgang der Eroberung und des Ausrottung von mehr als 70 Millionen menschlichen Wesen, ursprünglichen Einwohnern des Kontinents Abya Yala, und der Tod von mehr als 30 Millionen ursprünglichen Einwohnern Afrikas, verschleppt als Sklaven, ab dem Tag, an dem dieser spanische „Nationalheld“ seine Stiefel auf diesen Kontinent setzte.“ Die Unterzeichner begaben sich zur Staatsanwaltschaft, die gegen drei der fünf während der Ereignisse Festgenommenen Haftbefehle ausstellte und zeigten sich selbst an. Die Staatsanwaltschaft lehnte jedoch jedwede Schritte gegen sie ab.
Während die Diskussion um die Ereignisse immer größere Kreise zieht, wird der Ruf nach der Freilassung der drei Inhaftierten immer lauter. Auf einer Pressekonferenz zwei Tage nach den Ereignissen übernahmen mit der Erklärung „Wir sind verantwortlich“ 84, Aktivisten aus allen Kämpfen der venezolanischen Basis, die Verantwortung für die Ereignisse des 12. Oktober. und zeigten sich selbst an. Die Staatsanwaltschaft lehnte jedoch jedwede Schritte gegen sie ab. Der Statuensturz wird aber voraussichtlich ein Dreh- und Angelpunkt des Konflikts zwischen den Basisbewegungen bleiben, die der Regierung Chávez beim Putsch und beim „Streik“ das Leben gerettet haben und den Parteibürokraten, die die Institutionen füllen. Der Ausgang ist offen.